Vom Bergmannshaus zum Schachtelbau
Der Naumes Peter war ein besonders kräftiger Bergmann. Er arbeitete in Heinitz im Streckenvortrieb, und im Vergleich zu ihm hatten die Nichtbergleute Muskeln wie leere Fahrradschläuche. Da er gerade sein Haus baute, besaß er ein leicht gestörtes Verhältnis zu Eigentumsfragen. Seine Devise: "Ab unn zu muß ma von de Grub mol ebbes met hemmhole, damits net fortkommt." Und zu Hause mußte er das Material "verschaffe, damits .aus de Fieß war."
Seine Kameraden, die ihn wegen seiner Körperkräfte beneideten, versuchten ständig, ihm einen Streich zu spielen. Sie nahmen ihm heimlich den Rucksack weg, den er sorgfältig mit fiskalischem Zement gefüllt hatte, leerten den Zement aus und füllten ihn mit Sand. Das machten sie täglich, ohne daß der Naumes Peter ein Sterbenswörtchen darüber verlor. Fünf Tage lang trug er den Sand nach Hause, doch dann wurde er sauer. Er stellte sich breitbeinig vor seine Arbeitskameraden, leerte den Sand aus und schippte wieder Zement in seinen Rucksack. "Sand hann ich genuch", meinte er dabei, "jetzt brauch ich Zement."
Selbstverständlich benötigte der Naumes Peter keine Handwerker. Bergleute können nämlich alles. Böse Zungen behaupten sogar, die Saarbergleute seien Universaldilletanten. Keine Arbeit ist ihnen fremd. Sie mauern und gipsen, sie verlegen Rohre und Stromleitungen, kurzum: alles, was beim Bauen so anfällt, wird selbst erledigt. Typische Äußerungen in diesem Zusammenhang:
"Das hallt!" oder "Die do Mauer, die steht noch in hunnert Johr." - Kein Wunder, denn in der Grube wird sehr solide gearbeitet. Da kann man sich keinen Firlefanz leisten. Und in der Grube haben die Bergleute schließlich ihre handwerklichen Fähigkeiten erworben.
Die Saarbergleute dürften die baufreudigste Berufsgruppe überhaupt sein. Bereits im Jahr 1893 hatten zwei Drittel ein eigenes Haus, während z. B. an der Ruhr rund drei Viertel der Kumpels in Miete wohnten. Das eigene Haus war für die Saarbergleute mehr als ein Dach über dem Kopf. Wer ein Haus besaß, der galt etwas. War dies nicht der Fall, dann hieß es geringschätzig: "Der hat noch net emol e Haus." Noch heute gibt es an der Saar - im Verhältnis zur Bevölkerungszahl - weitaus mehr Eigenheime als in anderen Bundesländern. Da kommen selbst die Schwaben mit ihrem sprichwörtlichen "Schaffe, schaffe, Häusle baue" nicht mit.
Die Ursache dafür liegt eindeutig in der Vergabe von Baudarlehen durch die Bergwerksdirektion. Bereits im Jahr 1841 machte der damalige Bergrat Sello in einer Denkschrift den Vorschlag, bauwilligen Bergleuten ein Darlehen zu gewähren, und unter bestimmten Voraussetzungen sollten sie auch eine Bauprämie erhalten. Die sozialpolitische Zielsetzung dieser Maßnahme läßt sich aus den Zulassungsbestimmungen für die Vergabe von Baudarlehen klar erkennen: Prämien wurden nur bei guter Führung vergeben, und bei Disziplinarvergehen, wozu z. B. die Beteiligung an einem Streik gehörte, konnte die Summe zurückgefordert werden. Vierzehn Jahre nach der Denkschrift stellte Oberberghauptmann Heinrich von Dechen befriedigt fest: "Es ist dabei ein Arbeiterstand gewonnen worden, der die Gruben nicht verläßt, und der immer neue Arbeiter für dieselben erwachsen läßt. "
Damit war der Grundstein für die noch heute sehr problematische Immobilität der Saarländer gelegt. Die Festlegung auf einen Wohnort, auf einen Arbeitsplatz, gekoppelt mit einem durch den Hausbau geförderten Besitzdenken, führte schließlich zu einem Standesbewußtsein, das sich u. a. auch in der Traditionspflege niederschlug und auch mit eine Ursache dafür war, daß sich eine Arbeiterbewegung an der Saar erst relativ spät entwickelte.
Der Hausbesitz kam auch dem Bergmannsbauerntum sehr entgegen. Im Jahr 1875 hatten rund 30 Prozent der Bergleute eigenes Land, das ihre Familien und auch sie selbst in ihrer Freizeit bewirtschafteten. Bis 1910 ging der Landbesitz auf 20 Prozent zurück, aber die Kleinviehhaltung spielte noch immer eine große Rolle. Aus dieser Zeit ist auch der folgende Antrag auf ein Baudarlehen überliefert:
"Ich ersuche hiermit um ein Darlehen zwecks Neubau eines Stalls wegen Platzmangel, weil ich meine beiden verheirateten Söhne bei mir wohnen habe."
Daß die verheirateten Kinder zumindest in der ersten Zeit mit im Haus wohnten, war selbstverständlich. Man baute an, man baute':" aus, und mit der Zeit bekam das Bergmannshaus eine Form, die wir heute als "Schachtelbauweise" bezeichnen, ein Baustil, den sich auch Angehörige anderer Berufsgruppen zu eigen gemacht haben. Noch heute kennt man die Verschachtelung von Haus, Garage und Gartenhäuschen. Und damit es nicht zu dunkel wird, geht man nicht gerade sehr sparsam mit Glasbausteinen um. Selbstverständlich alles "Marke Eigenbau". Ein typisches Beispiel dafür sind die "fiskalischen Häuser" in Elversberg, wo lange Zeit die "Pannekuche nur of ähner Seit gebackt wor sinn" (weil auf der anderen Straßenseite keine Häuser standen). Aber auch in anderen Gegenden des SaarIandes hat sich dieser Baustil durchgesetzt - das Ergebnis der "Freimaurerei".
Daß diese baulichen Eigenarten sogar exportiert werden, beweist das Schwarzwaldstädtchen Blumberg. Dorthin wurden in der Zeit des Dritten Reiches Hunderte von Saarbergleuten verlegt, weil sie sich vor dem 13. Januar 1935 gegen die nationalsozialistische Machtergreifung an der Saar zur Wehr gesetzt hatten oder sich nach dem Anschluß an betrieblichen Kampfrnaßnahmen beteiligten. Wer heute durch Blumberg fährt und die Siedlung sucht, in der die Saarländer wohnen, der braucht sich nur einmal genauer die Häuser anzuschauen. Überall, wo "geknaubt" wird, wo eine Speißmaschine vorm Haus steht, wo Backsteine in der Einfahrt liegen, dort wohnen sie, die ehemaligen saarländischen Bergleute, die noch heute in einem Verein der Saarländer zusammengeschlossen sind.